Samstag, 22. August 2015

Kann man durch ein Wunder von Bulimie befreit werden?

Vielleicht hast du bei Youtube schon die beiden Videos über "Wunderheilungen" gesehen. Sie beschreiben zwei Frauen, die davon erzählen, wie sie durch "Gottes Gnade" von der Bulimie befreit worden sind.

Zum Einen will ich vorausschicken, dass ich, falls du gläubig bist, deinen Glauben nicht angreifen möchte. Ich möchte den Hintergrund der Geschichten beleuchten und das dabei möglichst objektiv tun.

Also, was ist den beiden Frauen passiert? Beide waren tief in ihrer Essstörung gefangen. Beide fühlten sich wie fremdgesteuert und beide hatten bereits Therapien hinter sich, die keine signifikante Besserung gebracht hatten: Sigrid 3, von Anne erfährt man es nicht. Sie fühlten sich der Essstörung ausgeliefert, sie fühlten sich machtlos. Sie fühlten sich, als hätten sie keine Kontrolle mehr über ihr Leben.

Auf der anderen Seite waren beide christlich gläubig. Sie glaubten, dass Gott, wenn er will, sie von ihrer Krankheit befreien kann. Beide waren aber auch schon lange Jahre bulimisch, so dass ihre Hoffnung immer mehr schwand, dass ihr Glauben irgend etwas daran ändern könnte.

Darum ist bei beiden Geschichten der Zeitpunkt der „Wunderheilung“ so wichtig. Denn durch ihn gab es plötzlich doch eine Veränderung. Er ähnelt sich in beiden Fällen, denn bei beiden gab es einen kurzen Moment, an dem ihnen klar wurde, dass es „so“, also mit der Bulimie, einfach nicht weitergehen könne. Das entspricht übrigens bei einer "normalen" Genesungsgeschichte auch dem ersten Schritt in der Heldenreise.

Bei Sigrid ist es eine Situation im Badezimmer, als sie gerade erbrechen will, es aber nicht wie sonst funktioniert. Die Situation ist dann noch insofern anders, als sie auch anders reagiert als sonst. Sie fühlt sich hilflos statt aggressiv. Dann hat sie ein religiös-transzendentales Erlebnis: Jesus erscheint ihr. Sie entscheidet sich in diesem Bruchteil einer Sekunde, dass sie die Bulimie hinter sich lässt.

Screenshot Youtube, https://www.youtube.com/watch?v=x-1KFWpZciA

Bei Anne ist es zu Beginn eher ein Experiment. Sie will ausprobieren, ob ihr Glauben ihr aus ihrer Krankheit helfen kann. Nach einiger Zeit ist sie jedoch sehr frustriert, weil sie keinen Fortschritt sieht. Sie wird ihren Frust los, in einer Art Gespräch mit Gott. Anschließend hat sie den Eindruck, dass sie ruhig und befreit ist. Sie schläft ein und „weiß“, dass sie nun ein neuer Mensch ist. Ihr entscheidender Moment ist also weniger wie ein Blitz, also anders als bei Sigrid, aber dennoch bewusst. Sie fühlt sich "von außen" befreit, sie muss in diesem Moment oder Zeitraum selbst keine Entscheidung treffen, sie wird vielmehr passiv befreit. Anders als bei Sigrid wird sie nicht vor die Wahl gestellt, die Bulimie loszulassen. Vielmehr wird die Bulimie von ihr genommen.

Screenshot Youtube, https://www.youtube.com/watch?v=0Zyc9KujS2I

Was beide Geschichten vereint, ist die Überzeugung, es alleine niemals schaffen zu können. Beide fühlen sich hilflos und der Krankheit ausgeliefert. Annes Freund sagt sogar: „Ich wusste, wenn ihr etwas helfen kann, dann kann es nichts menschliches sein. Es muss Gott sein.“ Diese Haltung ist natürlich für die eigene interne Kontrollüberzeugung und Selbstwirksamkeit fatal. Denn nichts macht einen Menschen hilfloser als die Meinung, einen Umstand nicht selbst in der Hand zu haben.

Ihr Vertrauen auf eine übernatürlich starke Kraft (in dem Fall Gott) überträgt die bei psychisch gesunden Menschen im Menschen selbst verankerte Kraft nach außen. So hat man selbst nur noch sehr wenig Einfluss darauf, dass man die Bulimie überwindet. Vielmehr ist man auf die „Gnade Gottes“ angewiesen. Nach dem christlichen Glauben weiß Gott, was das Beste für einen Menschen ist. Folglich kann es sein, dass man als Gläubiger, wenn sich an der Bulimie nichts ändert, dann eben irgendwann die Krankheit als Schicksal oder Wille Gottes akzeptiert. 

Ich halte dieses „Vorgehen“ für fatal. Es kann Menschen in eine Art Opferhaltung bringen; es kann dazu kommen, dass sie sich als passive Objekte scheinbar göttlicher Macht betrachten und sich selbst nicht mehr imstande sehen, etwas an ihrem Verhalten zu ändern.

Die Selbstwirksamkeit zu steigern sollte eines der ersten Ziele einer Therapie sein. Nur Erfolgserlebnisse und die Überzeugung, das eigene Leben selbst in der Hand zu haben und eben auch Macht über die eigenen Entscheidungen zu haben, motivieren und können früher oder später eine Symptomfreiheit bringen.

Was haltet ihr von den Geschichten? Könnt ihr euch mit einem von beiden identifizieren?

3 Kommentare

  1. Hey, nun, ich denke, du reduzierst hier die fundamentale Grundlage gläubiger Menschen auf ihre Grundlage im Genesungsprozess. Es gibt in der Medizin den Satz: „Was heilt, hat recht.“ Ich denke, wenn diesen Frauen ihr persönlicher Gottesglaube geholfen hat, sich von einem so großen Leid zu lösen, dann ist das eine bemerkenswerte Kraft, die da am Wirken ist. Diese Frauen und andere gläubige Menschen erleben sich nicht als „Opfer“, gleichwohl sie ihr (komplettes) Leben (je nach Intensität der gelebten Religiösität) an einem Gott orientieren, der größer, vollkommener und mächtiger ist als jeder menschliche Willen. In diesem System ist der Mensch stets auf Gott angewiesen, nicht nur in der Überwindung von Krankheiten und Krisen. Gott ist es auch, der Freude und Glück zuteil werden lässt. Kurz gesagt: Gott ist, was dem Menschen widerfährt. Man kann dieses Gott-Mensch-Verhältnis kritisieren und hinterfragen, jedoch entzieht es sich auch zu einem Gutteil jeglicher Argumentation, das ist das Wesen des Glaubens, insbesondere im christlichen Kontext ist der Mensch Sünder. Von daher ist deine Herangehensweise schlicht falsch.

    Ich persönlich denke nun, dass die Gewissheit, von Gott in aller Fehlerhaftigkeit und Unperfektion geliebt zu werden – etwas, das menschliche liebe nicht vermag – Menschen durchaus so viel Sicherheit und Selbstvertrauen geben kann, dass sie es wagen, die Essstörung loszulassen. Und das ist imho etwas Wundervolles.
    Es gibt mehr als einen Weg.

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    1. Ich will ja nur sagen: Man sollte sich trotz seines Glaubens mit Möglichkeiten der eigenen Kompetenzentwicklung beschäftigen. Das haben die beiden Frauen nicht mehr getan, weil sie sich aufgegeben haben. Sigrid sagt das ja ganz deutlich. In dem Fall kann man den Glauben der beiden ja wirklich die allerletzte Rettung sehen, aber soweit sollte es ja in erster Linie gar nicht erst kommen.

      Es ist nach einer langen Zeit der Erkrankung nur verständlich, dass man sich irgendwann hilflos fühlt und keinen Ausweg mehr sieht. Meine These dazu ist aber, dass man es dazu (als Betroffener!) nicht kommen lassen muss. JEDER kann sich aktiv um die Weiterentwicklung seiner Kompetenzen im Hinblick auf die Erkrankung kümmern und so die Hoffnung wiedergewinnen. Es kommt aber eben zu einer hilflosen Situation, wenn man -ausschließlich, wie in den Videos- auf eine übersinnliche Macht vertraut.

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    2. Die Aufforderung zur Eigeninitiative in Form des Satzes "Hilf dir selbst, so hilft dir Gott." ist darüber hinaus in vielen Sprachen vorzufinden (im Französischen beispielsweise "Aide-toi, le ciel t’aidera") und hat seine Ursprünge in der Antike (!).

      Das unterstreicht, dass die Vorstellung, nicht nur auf Gott zu vertrauen sondern selbst aktiv zu werden, den Menschen seit vielen Jahrhunderten bekannt ist.

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