Das Problem dabei ist, dass viele dieses "was dahinter steckt" nie herausfinden. Es gibt Achtzigjährige, die sich ihr Leben lang etwas vorgespielt haben. Und um das zu tun, muss man nicht einmal Bulimie haben, nein, man kann sein wahres Ich auch unter schönen Deckmäntelchen verstecken, man kann sich übertrieben anpassen, sich perfektionistisch, ängstlich, schüchtern oder auch einfach arrogant verhalten.
Dass viele Menschen es nicht herausfinden und sich infolge dessen nicht "natürlich" verhalten, ist keine Angelegenheit, die nur den und insbesondere die Einzelne betrifft. Es liegt, soviel weiß ich heute, an unserer Gesellschaft, unserer Sozialisation.
"Das was dahinter steckt" hat nichts mit der Vergangenheit zu tun, es ist kein Vorfall aus der Kindheit und es ist auch nichts, was so groß ist, dass ich jahrelang danach graben muss.
Aber was ist es dann?
Clarissa Pinkola-Estes schließt dieses unnatürliche Verhalten auf eine Verletzung des Instinkts zurück. Dies geschieht oft bereits im Kindesalter. Es passiert, wenn ein Kind daran gehindert wird, seine Kreativität auszuleben. Um das zu veranschaulichen, passt Hans Christian Andersens Märchen der Roten Schuhe sehr gut:
"Da war ein kleines Mädchen, fein und niedlich, aber im Sommer mußte sie immer mit bloßen Füßen gehen, denn sie war arm, und im Winter mit großen Holzschuhen, sodaß der kleine Fuß ganz rot wurde, und das sah zum Erbarmen aus.
Mitten im Dorfe wohnte die alte Mutter
Schuhmacher, sie saß und nähte, so gut sie konnte, von alten, roten
Tuchstreifen ein Paar kleine Schuhe. Sie waren ganz plump, aber es war
gut gemeint, die sollte das kleine Mädchen haben. Das kleine Mädchen
hieß Marie.
Gerade an dem Tage, als ihre Mutter begraben wurde,
erhielt sie die roten Schuhe und hatte sie zum ersten Male angezogen.
Freilich war es nicht, um damit zu trauern, aber sie hatte keine andern,
daher ging sie mit diesen hinter dem ärmlichen Sarge her.
Da kam auf einmal ein großer Wagen, und darin saß
eine alte Dame; sie betrachtete das kleine Mädchen und fühlte Mitleid
mit ihr, und dann sagte sie zum Prediger: »Hört, gebt mir das kleine
Mädchen, dann werde ich mich ihrer annehmen!«
Marie glaubte, das geschehe alles nur der roten
Schuhe wegen, aber die alte Dame meinte, die seien greulich, und sie
wurden verbrannt. Marie selbst aber wurde rein und ordentlich angezogen;
sie mußte lesen und nähen lernen, und die Leute sagten, sie sei
niedlich, aber der Spiegel sagte: »Du bist weit mehr als niedlich, Du
bist schön!«
Da reiste die Königin einst durch das Land und
hatte ihre kleine Tochter bei sich, das war eine Prinzessin, und die
Leute strömten nach dem Schlosse hin, und da war Marie denn auch, und
die kleine Prinzessin stand in feinen, weißen Kleidern am Fenster und
ließ sich anstaunen, sie hatte weder Schleppe noch Goldkrone, aber
herrliche, rote Saffianschuhe, die freilich weit schöner waren, als die,
welche die Mutter Schuhmacher der kleinen Marie genäht hatte. Nichts in
der Welt kann doch mit roten Schuhen verglichen werden!
Nun war Marie so alt, daß sie eingesegnet werden
sollte, sie bekam neue Kleider, und neue Schuhe sollte sie auch haben.
Der Schuhmacher in der Stadt nahm Maß zu ihrem kleinen Fuß, das geschah
zu Hause in seinem eigenen Zimmer, und da standen große Glasschränke mit
niedlichen Schuhen und glänzenden Stiefeln. Das sah allerliebst aus,
aber die alte Dame konnte nicht gut sehen und da hatte sie kein
Vergnügen daran. Mitten unter den Schuhen standen ein Paar rote, ganz
wie die, welche die Prinzessin getragen hatte; wie schön waren
die! Der Schuhmacher sagte auch, daß sie für ein Grafenkind gemacht seien, sie hätten aber nicht gepaßt.
»Das ist wohl Glanzleder?« fragte die alte Dame. »Sie glänzen so!«
»Ja, sie glänzen!« sagte Marie, und sie paßten
und wurden gekauft, aber die alte Dame wußte nichts davon, daß sie rot
waren, denn sie hätte Marie nie erlaubt, in roten Schuhen zur Einsegnung
zu gehen, aber das that sie nun.
Alle Menschen betrachteten ihre Füße, und als sie
zur Chorthür über die Kirchenschwelle hinschritt, kam es ihr vor, als
wenn selbst die alten Bilder auf den Begräbnissen, die Prediger und
Predigerfrauen mit steifen Kragen und langen, schwarzen Kleidern, die
Augen auf ihre roten Schuhe hefteten, und nur an diese dachte sie, als
der Prediger seine Hand auf ihr Haupt legte und von der heiligen Taufe,
vom Bunde mit Gott, und daß sie nun eine erwachsene Christin sein solle,
sprach. Die Orgel spielte feierlich, die hübschen Kinderstimmen sangen
und der alte Lehrer sang, aber Marie dachte nur an die roten Schuhe.
Am Nachmittage erfuhr die alte Dame von den
Leuten, daß die Schuhe rot gewesen, und sie sagte, daß es häßlich sei
und sich das nicht schicke, daß Marie später, wenn sie zur Kirche gehe,
immer mit schwarzen Schuhen gehen solle, selbst wenn sie alt seien.
Am nächsten Sonntage war Abendmahl, und Marie
betrachtete die schwarzen Schuhe, sie besah die roten – und besah sie
wieder und zog die roten an.
Es war ein herrlicher Sonnenschein; Marie und die alte Dame gingen den Fußsteig durch das Korn entlang, da stäubte es ein wenig.
An der Kirchthür stand ein alter Soldat mit einem
Krückstocke und mit einem wunderbar langen Barte, der war mehr rot als
weiß, und er neigte sich bis zur Erde und fragte die alte Dame, ob er
ihre Schuhe abwischen dürfe. Marie streckte
auch ihren kleinen Fuß aus. »Sieh, was für schöne Tanzschuhe!« sagte der
Soldat, »sitzt fest, wenn Ihr tanzt!« und dann schlug er mit der Hand
gegen die Sohlen.
Die alte Dame gab dem Soldaten ein Almosen und dann ging sie mit Marie in die Kirche.
Alle Menschen drinnen sahen nach Mariens roten
Schuhen, und alle Bilder sahen danach, und als Marie vor dem Altar
kniete und den goldenen Kelch an ihren Mund setzte, dachte sie nur an
die roten Schuhe, und es war ihr, als ob sie im Kelch herum schwimmen;
und sie vergaß ihren Psalm zu singen, sie vergaß ihr »Vater unser« zu
beten.
Nun gingen alle Leute aus der Kirche, und die
alte Dame stieg in ihren Wagen. Marie erhob den Fuß, um nachzusteigen,
da sagte der alte Soldat: »Sieh, was für schöne Tanzschuhe!« und Marie
konnte nicht umhin, sie mußte einige Tanztritte machen, und als sie
anfing, fuhren die Beine fort zu tanzen, es war gerade, als hätten die
Schuhe Macht über sie erhalten. Sie tanzte um die Kirchenecke, sie
konnte es nicht lassen, der Kutscher mußte hinterher laufen und sie
greifen, und er hob sie in den Wagen, aber die Füße fuhren fort zu
tanzen, sodaß sie die gute, alte Dame gewaltig trat. Endlich zog sie die
Schuhe aus und die Beine erhielten Ruhe.
Daheim wurden die Schuhe in einen Schrank gestellt, aber Marie konnte nicht unterlassen, sie zu betrachten.
Nun lag die Dame krank darnieder, es hieß, sie
werde nicht wieder gesund. Gepflegt und gewartet mußte sie werden und
niemand war dazu mehr verpflichtet als Marie. Aber in der Stadt war ein
großer Ball. Marie war eingeladen; – sie betrachtete die alte Dame, die
doch nicht genesen konnte, sie besah die roten Schuhe, und sie meinte,
es sei keine Sünde dabei. – Sie zog die roten Schuhe an, das konnte sie
ja auch wohl; aber dann ging sie zum Ball und fing an zu tanzen.
Als sie aber zur Rechten wollte, tanzten die Schuhe zur Linken, und als sie die Diele hinauf wollte, tanzten die Schuhe
dieselbe hinunter, die Treppe hinab, durch die Straße aus dem Stadtthor
hinaus. Sie tanzte und mußte tanzen, gerade hinaus in den finstern Wald.
Da leuchtete es zwischen den Bäumen und sie
glaubte, es sei der Mond, denn es war ein Gesicht, aber es war der alte
Soldat mit dem roten Bart, er saß und nickte und sagte: »Sieh, was für
schöne Tanzschuhe!«
Da erschrak sie und wollte die roten Schuhe
abwerfen, aber die hingen fest, und sie schleuderte ihre Strümpfe ab,
aber die Schuhe waren an den Füßen festgewachsen. Sie tanzte und mußte
über Feld und Wiese, im Regen und Sonnenschein, bei Nacht und bei Tage
tanzen, aber nachts war es am greulichsten.
Sie tanzte auf den offenen Kirchhof hinauf, aber
die Toten dort tanzten nicht, die hatten etwas viel Besseres zu thun,
als zu tanzen. Sie wollte sich auf des Armen Grab setzen, wo das bittere
Farrenkraut wächst, aber für sie war weder Ruhe noch Rast, und als sie
gegen die offene Kirchthür hintanzte, sah sie dort einen Engel in weißen
Kleidern, mit Schwingen, die ihm von den Schultern bis zur Erde
reichten, sein Antlitz war streng und ernst, und in der Hand hielt er
ein Schwert, breit und glänzend.
»Tanzen sollst Du!« sagte er, »tanzen auf Deinen
roten Schuhen, bis Du bleich und kalt wirst, bis Deine Haut zu einem
Gerippe zusammenschrumpft! Tanzen sollst Du von Thür zu Thür, und wo
stolze, hochmütige Kinder wohnen, sollst Du anklopfen, sodaß sie Dich
hören und fürchten! Tanzen sollst Du, tanzen – –!«
»Gnade!« rief Marie. Aber sie hörte nicht, was
der Engel erwiderte, denn die Schuhe trugen sie durch die Thür auf das
Feld, über Weg und Steg, und immer mußte sie tanzen.
Eines Morgens tanzte sie an einer Thür vorbei, die sie gut kannte. Drinnen tönte Psalmengesang, ein Sarg wurde herausgetragen, der mit Blumen geschmückt war. Da wußte sie, daß die
alte Dame gestorben war, und nun fühlte sie, daß sie von allen verlassen
und von Gottes Engel verdammt sei.
Sie tanzte, und sie mußte tanzen, tanzen in der
finstern Nacht. Die Schuhe trugen sie über Dorn und Sumpf davon, sie riß
sich blutig; sie tanzte über die Haide dahin nach einem kleinen,
einsamen Hause. Hier wußte sie, daß der Scharfrichter wohne und sie
klopfte mit den Fingern an die Scheiben und sagte:
»Komm heraus! – komm heraus! – ich kann nicht hinein kommen, denn ich muß tanzen!«
Und der Scharfrichter sagte: »Du weißt wohl
nicht, wer ich bin? Ich schlage den Menschen die Köpfe ab und ich merke,
daß meine Axt klingt!«
»Schlage mir nicht den Kopf ab,« sagte Marie,
»denn dann kann ich meine Sünde nicht bereuen, aber schlage meine Füße
mit den roten Schuhen ab!«
Sie bekannte ihre Sünde, und der Scharfrichter
hieb ihr die Füße mit den roten Schuhen ab, aber die Schuhe tanzten mit
den kleinen Füßen über das Feld dahin in den tiefen Wald hinein.
Er schnitzte ihr Holzfüße und Krücken, lehrte sie
einen Psalm, den die Sünder immer singen, und sie küßte die Hand, die
das Beil geführt hatte und ging über die Haide fort.
»Nun habe ich genug für die roten Schuhe
gelitten,« sagte sie, »nun will ich in die Kirche gehen, damit sie mich
sehen können!« Und sie ging rasch gegen die Kirchthür; als sie aber
dahinkam, tanzten die roten Schuhe vor ihr her und sie erschrak und
wendete um.
Die ganze Woche hindurch war sie betrübt und
weinte viel bittere Thränen, aber als Sonntag wurde, sagte sie: »Nun
habe ich genug gelitten und gestritten; ich glaube wohl, daß ich ebenso
gut bin als manche von denen, die da in der Kirche sitzen und sich
brüsten!« Und dann ging sie mutig hin; aber sie kam nicht weiter, als bis zur Kirchhofthür, da sah sie die roten
Schuhe vor sich hertanzen, und sie erschrak, wendete um und bereute
recht von Herzen ihre Sünde.
Sie ging zur Pfarrwohnung und bat, daß man sie
dort in Dienst nehmen möge, fleißig wolle sie sein, und alles thun, was
sie könnte, auf den Lohn sehe sie nicht, nur daß sie unter Dach komme
und bei guten Menschen sei. Die Predigerfrau hatte Mitleid mit ihr und
nahm sie in ihren Dienst. Marie war fleißig und nachdenkend. Stille saß
sie und horchte auf, wenn der Prediger des Abends aus der Bibel laut
vorlas. Alle Kinder hielten viel von ihr, wenn sie aber von Putz und
Pracht und von Schönheit sprachen, schüttelte sie mit dem Kopfe.
Am nächsten Sonntage gingen alle zur Kirche, und
sie fragten sie, ob sie mitgehen wolle, aber sie blickte betrübt, mit
Thränen in den Augen, auf ihre Krücken, und dann gingen die andern hin,
Gottes Wort zu hören, sie aber ging allein in ihre kleine Kammer, die
nicht größer war, als daß das Bett und ein Stuhl darin stehen konnten.
Hier setzte sie sich mit ihrem Gesangbuch hin, und als sie mit frommem
Sinn darin las, trug der Wind die Orgeltöne von der Kirche zu ihr
herüber, und sie erhob ihr Antlitz mit Thränen und sagte: »O Gott, hilf
mir!«
Da schien die Sonne ganz hell, und gerade vor ihr
stand Gottes Engel in den weißen Kleidern, den sie in jener Nacht in
der Kirchthür erblickt hatte, aber er hielt nicht mehr das scharfe
Schwert, sondern einen herrlichen grünen Zweig, der voller Rosen saß. Er
berührte damit die Decke, und sie erhob sich hoch, und wo er sie
berührt hatte, glänzte ein goldener Stern, und er berührte die Wände,
die sich erweiterten, und sie erblickte die Orgel, welche spielte, sie
sah die alten Bilder mit Predigern und Predigerfrauen, die Gemeinde saß
in den geputzten Stühlen und sang aus ihren Gesangbüchern. – Denn die
Kirche war selbst zu dem armen Mädchen in die enge Stube gekommen, oder auch war sie dahingekommen. Sie saß im Stuhl bei den
übrigen Leuten des Predigers, und als sie den Psalm geendet hatten und
aufblickten, nickten sie und sagten: »Das war recht, daß Du kamst,
Marie!«
»Das war Gnade!« sagte sie.
Und die Orgel klang und die Kinderstimmen im Chor
tönten sanft und lieblich! Der klare Sonnenschein strömte warm durch
das Fenster in den Kirchstuhl, wo Marie saß, hinein, ihr Herz wurde so
voller Sonnenschein, Frieden und Freude, daß es brach. – Ihre Seele flog
auf Sonnenschein zu Gott, und dort war niemand, der nach den roten
Schuhen fragte." - Quelle
Wie soll man dieses Märchen nun deuten, und was hat es mit Bulimie zu tun? Zunächst ist festzustellen, dass die roten Schuhe ein Sinnbild für die Kreativität des Mädchens sind. Die Farbe Rot ist auch ganz klar mit dem Ausdruck von Emotionen verknüpft.
Zu Beginn der Geschichte ist das Mädchen noch mit seinem Instinkt verbunden, es hat seiner Kreativität noch Ausdruck verliehen und sich selbst rote Schuhe genäht. Auch wenn sie schäbig wirkten, so hatten sie doch eine äußerst kostbare Bedeutung für das Mädchen. Sie hatte sie selbst gemacht und durch ihr Vorstellungsvermögen etwas erschaffen.
Die alte Dame nimmt ihr die Schuhe weg, sie schneidet dem Mädchen damit die Verbindung zu ihrem Innersten ab, weil sie selbst keine Verbindung mehr dazu hat. Alte Damen sind im Leben all diejenigen, die Kindern ihre Ideen ausreden, die sie nicht ernstnehmen und zum Bravsein ermahnen. Vor allem Mädchen sollen ja immer schön still und höflich sein.
Die Einsegnung könnte auch eine Konfirmation sein, also eine Art christlicher Initiationsritus, der aber leider gar nichts mit emotionaler Involviertheit des Mädchens zu tun hat - im Gegenteil. Es wird dazu angehalten, sich zu benehmen und seine Bedürfnisse nicht wahrzunehmen, also keine roten, sondern schwarze Schuhe zu tragen. Es ist kein Ereignis der Freude, sondern ein Trauerspiel.
Das Mädchen kauft beim Schuster aber keine schwarzen, sondern rote Schuhe. Es fällt auf die roten Schuhe herein, denn die neuen roten Schuhe stehen für alle schnelllebigen Ersatzbefriedigungen, denen wir nachgeben, anstatt auf unsere eigene Stimme zu hören. Dazu gehört auch die Bulimie. Es ist einfacher, einen Fressanfall haben, als auf die eigene Stimme zu hören und ein Leben zu führen, dass dem eigenen Wesen entspricht.
Aber diese neuen roten Schuhe führen ins Verderben. Sie lassen das Mädchen nicht mehr in Ruhe, sie ist fremdbestimmt, bis sie sich die Füße abschlagen lässt. Erst als Krüppel hört sie auf ihre eigene Stimme und erkennt, worauf es ihr ankommt.
Das ist also die Moral der Geschichte: auf die eigene Stimme hören. Es kann dauern, bis sie wieder wahrgenommen wird, aber sie ist nicht unterzukriegen. Das erkennt man schon allein daran, dass alle Ersatzbefriedigungen andauern. Und dass eine Bulimie ohne das Hören auf die eigene Stimme keine Chance hat, geheilt zu werden.