Mir ist aufgefallen, dass ich während und noch Jahre nach meiner bulimischen Erkrankung ein Gedankengerüst aufgebaut habe, das hauptsächlich aus Angst gemacht war. Das war keine spezifische Angst, wie die Angst vor Spinnen oder Höhenangst, nein. Es war die Angst vor dem Leben, vielleicht auch eine Angst vor der Angst. Was bedeutet, dass ich Angst hatte, nicht mit der Angst, der Konfrontation umgehen zu können, ihr völlig ausgeliefert zu sein.
Das ist sicherlich auch ein Grund dafür, dass ich noch einige Zeit mit magersüchtigen Phasen zu kämpfen hatte, sicher, sie waren immer recht kurz, aber sie waren auch nur ein äußerer Ausdruck meines Seelenlebens. Mit der Angst lebte ich fast permanent. Auch während der Phasen, in denen es mir äußerlich gut zu gehen schien, igelte ich mich ein, traute mich oft nicht unter Menschen, war nicht in der Lage, meine Meinung zu sagen, ohne mich in irgendeiner Weise dafür zu schämen.
Klar, ich hatte ganz unterschiedliche Phasen, mal war es besser, mal war davon gar nichts zu merken und ich schöpfte neuen Mut. Aber oft brodelte diese Angst unter der Oberfläche, mal stark, mal weniger stark.
Auch mit in diese Thematik hinein spielt die Angst vor einem Kontrollverlust. Ich kann mit Fug und Recht behaupten, dass ich diese Angst erst vor einigen Monaten gänzlich losgeworden bin. Die vorletzte Phase war eine, in der ich das Gefühl hatte, auch haben wollte, besonders viel Kontrolle über mein Leben zu haben. Ich hielt mich auch strikt an meine eigenen Pläne und konnte mit spontanen Situationen wenig anfangen. Darauf folgte eine Phase, in der ich alles gehen ließ. Ich ließ los, und ich ließ bewusst los. Ich merkte richtig, wie ich innerlich entspannter wurde. Ich überließ die Dinge ihrem Lauf, und nahm vieles nicht mehr so wichtig. Ich lernte, meiner inneren Stimme mehr Raum zu geben, anstatt ihr vonseiten meines Verstands Vorschriften machen zu wollen. Das hatte zur Folge, dass ich in diesem Moment eine gute Balance gefunden habe, und noch nie zuvor in meinem Leben so geerdet war wie gerade in diesen Tagen. Es ist, als hätte ich mit Gewalt ein Loch zu stopfen versucht, durch das mit viel Druck immer mehr Wasser zu fließen schien. Als ich damit aufhörte, es zuzudrücken, wurde erstmal alles überschwemmt. Doch nach einiger Zeit war das Wasser versickert und die Sonne kam von selbst.
Aber zurück zur Angst. Hast du das Gefühl, dass Angst dein Leben dominiert? Wovor hast du genau Angst? Ich habe festgestellt, dass die Angst vor dem Unbekannten schlimmer ist als die Angst vor etwas Konkretem. Schreib dir doch mal auf, wovor du konkret Angst hast. Dann schau es dir genau an. Kannst du dich deinen Ängsten stellen? Warum nicht, was hindert dich daran? Was hast du zu verlieren?
Ich will euch Mut machen, dass ihr, im Gegensatz zum "normalen" Deutschen (Angst scheint eine besonders deutsches Phänomen zu sein, schaut euch Versicherungen gegen alles und jeden an) euch dessen gewiss werden könnt, dass diese Angst da ist, und dass sie unnötig ist. Die meisten Menschen sind sich dieser Angst gar nicht bewusst. Oder sie wissen es, aber haben Angst vor der Angst, und unternehmen nichts dagegen, weil sie nicht wissen, wie sie mit der Konfrontation umgehen sollen.
Meine Vermutung und eigene Erfahrung ist, dass besonders leidvolle Erfahrungen, und genau das ist die Erkrankung an Bulimie, erden können. Irgendwann stellt man fest, dass man nicht mehr tiefer fallen kann. Und dann kann man endlich was gegen die Angst tun. Denn es kann nichts mehr passieren, man kann sich nicht noch stärker in seiner Wohnung zurückziehen. Man kann sich nicht noch weiter von seinem wahren Inneren entfernen, aber was bietet sich stattdessen? Was bekommst du, wenn du diese Angst vor dem Leben loslässt?