Höre auf deinen Körper, denn er wird dir sagen, wann es Zeit zum Essen ist. Dann gilt es, genug zu essen. Hunger ist ein Überlebensmechanismus. Dein Körper wird dir früher oder später mitteilen, wenn er Nahrung benötigt. Die meisten Leute essen nicht dann, wenn sie hungrig sind, sondern weil es gerade Frühstücks-, Mittagessens- oder Abendessenszeit ist, weil jemand Geburtstag hat, sie etwas feiern wollen, sie wütend oder traurig sind und aufgrund vieler anderer Gründe, aber nicht, weil sie wirklich hungrig sind. Iss nur dann, wenn du wirklich hungrig bist.
> aus 1. folgt: Lass genügend Zeit zwischen den Mahlzeiten
Wie findest du also heraus, ob du wirklich hungrig bist und nicht nur Appetit auf etwas hast? Wenn du kurz nacheinander isst (und das habe ich auch schon in diesem Artikel erwähnt), wirst du nicht wirklich hungrig sein, weil der Magen noch von der letzten Mahlzeit voll ist. Dann ist es schwierig, zwischen Hunger und Appetit zu unterscheiden. Appetit ist nicht mit Hunger gleichzusetzen. Optimal ist ein Abstand von mindestens 4 Stunden. Wie kann man also feststellen, ob man wirklich hungrig ist? Geneen Roth rät dazu, sich, bevor man anfängt zu essen (oder einkaufen zu gehen), sich eine oder zwei Minuten Zeit zu nehmen. Und dann auf einer Skala von 1 bis 10 den eigenen "Hunger" einschätzt. 1 wäre "sterbenshungrig" und 10 "vollgestopft". Zwischen 5 und 10 ist der Körper nicht hungrig, zwischen 1 und 4 ist der Körper hungrig und braucht Nahrung, nur dann sollte man essen.
An dieser Guideline habe ich mich damals auch (unbewusst, da ich sie gar nicht kannte) orientiert und kann sie euch daher auch wirklich empfehlen. Vor allem der bulimische Magen hat völlig verlernt, Essen anständig zu verdauen und braucht daher vermutlich (das Gefühl hatte ich damals immer) länger, um den Mageninhalt zu verarbeiten. Wichtig, um Hunger zu spüren, ist es aber, dass der Magen wirklich leer ist. Daher sind 4-5 Stunden zwischen den Mahlzeit ein guter Tipp, um das Hungergefühl wieder aufkommen zu lassen. In einer Amazon-Rezension zu Geneen Roth´s Buch schreibt eine Leserin, dass sie die Methode gleich am ersten Tag nach dem Lesen ausprobiert hat. Sie wollte schließlich erst um 14 Uhr etwas essen, und das war geschlagene Sahne mit flüssiger Schokolade. Indem sie die Guidelines befolgt hat, hat sie sogar Gewicht verloren und ein völlig entspanntes Verhältnis zum Essen entwickelt.
2. Setz dich zum Essen hin und sei in einer ruhigen Umgebung.
Iss also nicht im Gehen oder im Auto. Warum nicht? Wenn man gleichzeitig etwas anderes macht, kann man sich nicht aufs Essen konzentrieren. Essen mit Genuss soll ja wieder gelernt werden. Genussvoll kann Essen aber nur sein, wenn man seine Aufmerksamkeit auf das Essen richtet.
Diese Guideline geht mit Nr. 3 und auch teilweise 4. einher: alleine und ohne Ablenkungen zu essen hilft dabei, den Fokus vollkommen auf das Essen zu richten. Ich halte es für praktikabel, wie weiter unten unter Nr. 4 beschrieben, einmal am Tag alleine zu essen. Das ist auch dann machbar, wenn man noch zuhause wohnt, tagsüber mit Kollegen essen geht oder abends auswärts isst. Wenn man sich mit dem Essen wieder sicherer fühlt, kann man das auch wieder ausweiten. Die Guidelines sind ohnehin nicht dazu gedacht, für den Rest des Lebens angewandt zu werden, sondern bieten vielmehr eine Unterstützung auf dem Weg der Heilung; aber auch eine gute Orientierung für die Zeit, wenn man schon längst wieder gesund ist.
3. Iss ohne "Störungen"
Störungen sind z.B. Unterhaltungen, die dir ein schlechtes Gefühl vermitteln, oder aber auch Musik, die nervös macht oder dich stört.
> 2. und 3. beinhalten eigentlich dasselbe, nämlich: sich die Zeit und das Privileg zu gönnen, sich wirklich auf das Essen zu fokussieren. Sei so nett zu dir und zoll dir selbst den Respekt, auch wenn es nur 5 Minuten sind. Oft schieben wir jedoch die Geschäftigkeit und den Stress als scheinbaren Grund vor, dass wir uns diese Zeit nicht nehmen. Man sollte sich aber schon fragen, wieviel man sich selbst wert ist, denn dann sind diese 5 Minuten immer drin, in denen man sich auf sich selbst konzentrieren und mit sich allein sein und sich etwas Gutes gönnen kann.
Diese Guideline überschneidet sich wieder stark mit Nr. 2- iss in einer ruhigen Umgebung; das beinhaltet äußere Ruhe. Ich möchte die Guideline ergänzen: kümmer dich auch um innere Ruhe. Lass nicht zu, dass dich aufwühlende Gedanken während des Essens stören. Das hinzubekommen, ist wieder leichter gesagt als getan. Aber du kannst vor dem Essen kurz innehalten, auch wenn das bedeutet, dass du ein, zwei Minuten auf die Toilette gehst und kurz überlegst, was dich so zur Weißglut bringt. Dann schreib es auf und klapp das Buch zu. Nimm dir vor, dir eine halbe Stunde selbst die Ruhe zu gönnen. Um die Angelegenheit kannst du dich nach dem Essen kümmern. Wenn du mit anderen beim Essen bist und sie über etwas sprechen, das dich stört, dann sprich ruhig an, dass solche Diskussionen nach dem Essen geführt werden können. Das Essen ist schließlich nicht dazu da, um Streitgespräche zu führen! Wie in 2. ist es auch hier nicht immer möglich, ganz ohne Geräuschkulisse zu essen. Aber wenigstens einmal am Tag kannst du dafür sorgen, während des Essens deine Ruhe zu haben. Du wirst dich vielleicht fragen, warum nur einmal am Tag, aber auch hier ist es wie so oft: die Übung macht den Meister.... Je öfter du dich auf dein Essen konzentrieren kannst, desto besser wird dein Verhältnis zu ihm werden.
4. Iss das, wonach dein Körper verlangt.
Hier werden Geneen anscheinend die meisten Vorwürfe gemacht, weil die Leute sich nicht vorstellen können, was dieser Punkt genau bedeutet. Die Leute glauben, sie hätten bisher doch schon immer das gegessen, was sie wollten und dass genau das sie in die Essstörung gebracht hätte.
Aber wirklich das zu essen, was der Körper will, bedeutet etwas anderes. Denn dann isst man nicht mehr das, was der Kopf sich ausdenkt. Wenn man nicht genau weiß, was der Körper braucht und worauf man Lust hat, soll man die Augen für 30 Sekunden schließen und warten, welche Lebensmittel dann auftauchen.
Diese Guideline halte ich für die schwierigste. Doch anfangs kann es völlig ausreichen, das nicht zu essen, was man nicht essen will. Das bedeutet, dass man keinen Apfel ist, wenn man ein Käsebrot will. Man isst den Apfel eben deshalb nicht, weil er gesünder ist und weniger Kalorien hat, sondern man isst das Käsebrot, weil man Lust darauf hat und die Lust darauf nicht weggeht, wenn man den Apfel isst. Teilweise halte ich diese Guideline für sinnvoll, aus dem eben genannten Grund, teilweise aber auch für sehr riskant. Denn wenn mir damals jemand gesagt hätte: "iss das, was du wirklich willst", hätte ich vermutlich Lust auf all diejenigen Lebensmittel gehabt, die ich während meiner FAs immer gegessen habe: Schokoladenkuchen, Lasagne, Fruchtjoghurts, und und und. Daher ist diese Guideline für sich genommen keine Hilfe. Es kann allerdings sehr helfen, vorerst eine Unterscheidung zwischen süß / salzig und warm / kalt zu treffen. Dann kann man sich fragen: Welche Konsistenz hat es? Ist es hart oder eher weich, welches Geräusch macht es beim Kauen? Wird es gekaut oder eher geschluckt? Will ich es zusammen mit etwas anderem essen? Hat es spezielle Gewürze oder riecht es besonders? All das hat mir in der Vergangenheit auch geholfen.
5. Iss solange, bis du zufrieden bist und keine Lust mehr hast, weiterzuessen.
Zufrieden und satt zu sein bedeutet nicht, vollgestopft zu sein. Man muss sich nicht vollstopfen, um satt sein zu können. Satt ist man also dann, wenn man einfach keine Lust mehr auf einen weiteren Bissen hat und nicht dann, wenn man keinen Bissen mehr herunterbekommt, weil man das Gefühl hat, sonst platzen zu müssen. Es wird schwerfallen, diesen Unterschied zu bemerken, wenn man nebenbei andere Sachen macht, wie z.B. fernsehen, lesen oder eine Unterhaltung zu führen (Anm.: jeden falls nicht zu Beginn, ich würde schätzen, dass man das nach einigen Wochen / Monaten auch wieder gelernt haben kann und so bewusst ist, dass man den Unterschied auch dann merkt, wenn man mit anderen Leuten gemeinsam isst). Mindestens einmal täglich sollte man laut Geneen Roth alleine essen, um sich komplett auf das Essen konzentrieren zu können. Es geht hier um die Übung, sich diesen Umgang mit dem Essen wieder anzueignen und die Signale des Körpers zu verstehen. Auf der Hungerskala (s.o.) wäre "satt" zwischen 4 und 5. Über einem Wert von 5, so Roth, fühlt man sich bereits voll und hat mehr gegessen, als der Körper braucht.
Zu Beginn kann es sein, dass man eher mehr essen muss, um sich satt zu fühlen. Das hat auch mit dem durch die großen Mengen ausgedehnten Magen zu tun, der sich erst wieder zurückbilden muss. Bitte mach dir dann keine Vorwürfe, wenn du das Gefühl hast, zuviel zu essen, und Angst hast, dass das für immer so bleibt- tut es nicht!
6. Iss dort, wo du in Sichtweise anderer Menschen bist
Dieser Punkt bewirkt, dass man sich selbst respektiert und seinen Hunger anerkennt. Die Annahme vieler Essgestörten ist: wenn andere mich sehen könnten, während ich esse und diesen unstillbaren Hunger nach Essen in mir stille, würden sie mich nicht mehr mögen. Dort zu essen, dass man für andere sichtbar ist / sein könnte, kann bewirken, dass man sich selbst akzeptiert und seinen Hunger als gegeben annimmt und ihn nicht mehr verheimlicht. Man sagt sich selbst, dass es okay ist, dies und das zu essen.
Zunächst hielt ich diese Guideline für etwas paradox in Hinblick auf 2. und 3., da viele Essgestörte generell ein Problem mit dem Essen in der Öffentlichkeit haben und vorher zum Essen in ruhiger Umgebung geraten wird. Sinnvoll kann es dennoch sein, sich z.B. einmal in der Woche auf einem Markt etwas zu kaufen und dort zu essen oder in ein Restaurant essen zu gehen. Dann kann man das öffentliche Essen auch gleich damit kombinieren, mal etwas neues auszuprobieren. Ich glaube schon, dass Essen "draußen" dazu beiträgt, dem Essen die Schwere zu nehmen.
7. Iss mit Freude und Genuss
Bring die Freude und den Genuss zurück zum Essen. Essen soll mit Genuss und nicht mit Schuldgefühlen verbunden sein. Erlaube dir, das Essen zu genießen.
Das ist ein Tipp, an dem ich absolut nichts auszusetzen habe. Ich selbst hatte den Genuss am Essen ziemlich schnell wieder gefunden, da ich mir schnell wieder die Sachen gekauft hatte, die mir gemundet haben. Sobald ich heute Zeit habe, zelebriere ich mein Essen. Ich habe eine Lieblingstasse und einen Lieblingsteller, dazu Besteck, das sich gut in der Hand anfühlt. All das trägt dazu bei, dass ich mein Essen genießen kann, und vielleicht hilft es auch, dass ich keine Billiglebensmittel mehr kaufe, sondern hauptsächlich bio. Ich tue mir mit dem Essen etwas Gutes- das ist die Botschaft, die ich mir mit dem Essen vermittle.
Geneen Roth bezeichnet diese Guidelines nicht als Regeln, sondern als Anleitungen der "Liebe" selbst. Die Liebe würde sagen, "setz dich in Ruhe hin und genieß das Essen. Fühl dich gut beim Essen."
Geneen Roth hat über das Verhältnis von Frauen zum Essen mehrere Bücher verfasst, u.a. "Essen als Ersatz" oder "Essen ist nicht das Problem":
Weitere Bücher findet ihr hier.
Ein kleines Video über diese Guidelines findet ihr auch hier.