Donnerstag, 19. September 2019

Warum ich nichts von Essprotokollen halte

Es gibt in der herkömmlichen Therapie für (bzw. gegen) Bulimie Essprotokolle, die Betroffene schreiben sollen, um sich einen Überblick über ihr Essverhalten zu verschaffen. Teils werden diese Protokolle auch mit den Behandlern geteilt, damit diese einen Einblick bekommen. Essprotokolle sollen beispielsweise auch dabei helfen, bestimmte Situationen zu identifizieren, in denen vermehrt Essanfälle passieren. So hat jemand beispielsweise Angst vor einem Treffen mit anderen Leuten, und bekommt darum vorher einen Essanfall. Dann kann im Nachhinein der Schluss gezogen werden, dass vermutlich diese Angst vor dem Treffen zu dem FA geführt hat.

In dem Protokoll sollen alle Mahlzeiten notiert werden. Außerdem wird notiert, ob andere Personen anwesend waren, an welchem Ort ich gegessen habe, zu welcher Uhrzeit und natürlich was genau und wieviel davon. Auch die Gefühle zum Zeitpunkt der Mahlzeit und danach werden aufgeschrieben.

Diese Methode ist relativ verbreitet und wird auch in vielen auf Essstörungen spezialisierten Kliniken so angewendet.

von Jan Kahanek / unsplash.com

Ehrlicherweise muss ich zugeben, dass ich diese Methode nie wirklich konsequent selbst angewendet habe. Wie der eine oder andere Leser vielleicht weiß, war ich nur einmal für wenige Wochen in einer Klinik und meine Besuche bei Psychologen kann man an einer Hand abzählen. Also habe ich diese Methode nie wirklich für mich entdeckt. Es hat aber auch einen bestimmten Grund, warum ich später, als ich die "Behandlung" meiner Bulimie selbst in die Hand genommen habe, nicht zu Essprotokollen gegriffen habe.

Warum habe ich mich also dagegen entschieden? Es gibt zwei wirklich größere Gründe dafür:

1) Kontrolle


Kann gestörtes Verhalten wirklich durch Kontrolle wieder normalisiert werden? Das glaube ich nicht. Mir ging es damals zunächst darum, wieder ein Gefühl für mein Essen und die Mengen zu entwickeln. Dafür brauche ich niemanden, der mir sagt, dass 500 Gramm Brot zum Frühstück zu viel sind - das weiß ich selbst. Und wenn ich mich entscheiden sollte, trotzdem so viel zu essen und es okay für mich ist - dann soll mir bitte auch niemand vorwerfen, dass ich so viel esse. Ich möchte nicht, dass jemand mein Essen beurteilt und bewertet. Denn wenn ich aus der Bulimie rauswill, dann entwickle ich meine eigenen Strategien und Vorgehensweisen, und wenn da 500 Gramm Brot zum Frühstück für eine Weile dazugehört, dann ist das eben so (bei mir war es übrigens wirklich so, und so bin ich auch gesund geworden. Nicht weil ich soviel gegessen habe, sondern weil ich dadurch eine "Strategie" entwickeln konnte, die zu mir gepasst hat). Wenn ich dann bis abends auch keinen Appetit mehr habe und das Mittagessen auslasse - so what? Ich möchte experimentieren, wenn ich in dieser Situation bin und mir kein Korsett anziehen lassen mit so einem Protokoll. Mir hätte das damals in keinem Fall geholfen, sondern es hätte Hass und Wut ausgelöst, weil ich nicht meine eigenen Strategien entwickeln darf.

Dieser Punkt kann gar nicht genug betont werden. Lasst euch von anderen nicht sagen, was ihr wann und wieviel davon essen sollt! Findet es selbst raus.

2) Bewertung durch Leute, die nicht unbedingt Ahnung von Ernährung haben


Von wem wird so ein Essprotokoll bewertet - oft sind es Psychologen, denen ganz essentielles Wissen in Bezug auf Ernährung fehlt. Wenn es andersrum ein Ernährungsberater ist, der es bewertet, dann fehlt ihm das Wissen in psychologischen Bereichen und er kann keine validen Schlüsse aus dem Protokoll ziehen. Wenn ich niemanden habe, der das Protokoll vernünftig auswerten und mir erklären kann - für wen schreibe ich es dann? Mal als Beispiel: Vor etlichen Jahren, als ich noch betroffen war, habe ich das Buch "Zucker und Bulimie" von Inke Jochims gelesen. Darin werden die neurochemischen (suchtähnlichen) Vorgänge erklärt, die v.a. von einfachen Kohlenhydraten (Zuckern) ausgelöst werden. Dieses Wissen ist leider immer noch nicht bei der breiten Masse angekommen. Ein Psychologe würde viele vermutlich auslachen, wenn sie erzählen würden, dass sie von bestimmten Lebensmitteln nahezu abhängig sind, auch wenn diese Zusammenhänge mittlerweile sehr gut erforscht sind. Auch generell rate ich sehr dazu, über Dinge nur mit Leuten zu reden, die selbst Experten auf dem Gebiet sind. Und ein Psychologe ist kein Experte in Ernährungsdingen, das muss jedem klar sein.

So - meine abschließende Meinung dürfte gut rübergekommen sein - ich halte rein gar nichts von Essprotokollen und habe das auch noch nie getan. Es gibt mittlerweile auch digitale Essprotokolle, die natürlich auf dem gleichen Prinzip basieren und in meinen Augen nicht zielführend sind. Falls euch jemand die Methode vorschlägt, dürft ihr das ja gern ablehnen und einen besseren Vorschlag machen: Experimentieren mit Mahlzeiten auf eigene Faust wäre mein Vorschlag :)

0 Kommentare

Kommentar veröffentlichen