Wer bin ich? Diese Frage stellt sich dem normalen Menschen und, mehr noch, einem Menschen mit Bulimie. Die Bulimie, genauer gesagt, das Symptom, das Überessen, stellt für ihn eine gute Methode dar, um genau diese Frage zu verdrängen. Denn sie macht Angst, Angst davor, ohne jede Persönlichkeit zu existieren. Paradoxerweise verhindert genau diese Methode aber, dass der Mensch sich überhaupt erst mit Fragen beschäftigt, geschweige denn diese zu beantworten. Nein, im Zweifel greift dieser Mensch nach seiner altbewährten Methode der Persönlichkeits-Unterdrückung, und gibt sich somit keine Chance, sich selbst weiterzuentwickeln. Er betäubt seine Probleme, deren Bewältigung ihn doch ihn jeder Form in Charakter und Selbstbewusstsein festigen würde. Er entkräftet so selbst jegliches Potenzial, das in der Beantwortung dieser Probleme und Fragen liegt, da diese ihm so aussichtslos und bedrohend erscheinen. Diese gefühlte Bedrohung führt immer und immer wieder zur Flucht in sein geliebtes Ritual: das Überessen.
Kein Wunder, dass viele Bulimiker oft viel jünger erscheinen, als sie tatsächlich sind. Ein Teufelskreis, fühlt sich doch eine 25-jährige, die auf 16 geschätzt wird, und damit um ganze 9 Jahre zu jung, nicht ernstgenommen, eine Einschätzung von außen, die ihrem eigenen Gefühl des Unvermögens noch entgegen kommt.
Doch anstatt angemessen auf derartige, durch die Bulimie erst hervorgerufene, Fehleinschätzungen, Missbilligungen oder gar Beleidigungen zu reagieren, reagiert der Mensch mit Bulimie seiner Sucht entsprechend: mit Überessen, er isst seinen Frust und den Ärger über seine eigene Unzulänglichkeit "weg", das jedoch offensichtlich nur oberflächlich. Unter der Oberfläche wuchern seine Probleme, sein Unvermögen, sein Leben nach seinem eigenen Gefallen zu meistern, ins Unermessliche. Dieses unermessliche Unzulänglichkeit wird bald zur haushohen Mauer, die ihn in seiner Bulimie einkerkert. Ein Entkommen scheint unmöglich.
Aber stopp, wie kann Heilung dann überhaupt noch möglich sein? Es ist möglich. Der Mensch muss diese Mauer, diese Beschränktheit erkennen und als Einengung seiner Entwicklung wahrnehmen. Sieht er sie nicht als solche wahr, ist Heilung schwierig, wenn nicht unmöglich. Diese Wahrnehmung erfolgt entweder plötzlich, als eine Art "mir ist es wie Schuppen von den Augen gefallen" oder "plötzlich war der Knoten geplatzt", oder oft als die letzten Schritte eines langen Wegs, den ein Mensch mit Bulimie geht. Dann erscheint ein Weitergehen auf dem Weg der Bulimie unmöglich, oft auch, weil körperliche Beschwerden eine Aufgabe des Überessens und Erbrechens zwingend erfordern.
Ist diese Wahrnehmung, dass ein Umschwung erfolgen muss, erst einmal geschaffen, so offenbaren sich dem Menschen mit Bulimie oft zum ersten Mal die Vielzahl seiner unterentwickelten Fähigkeiten, ihm fällt auf, dass er sich beispielsweise im sozialen Kontext teils wie ein Kind benimmt, dies zu Zeiten seiner Bulimie aber aus seinem Sichtfeld verdrängen konnte und sich aus Angst vor Veränderung, aus Angst, Verantwortung zu übernehmen, nicht ausreichend mit derartigen Problemen seines Verhaltens auseinander gesetzt hat.
Als Fazit möchte ich konstatieren, dass, meiner Erfahrung nach, ein Entwicklungsrückstand bei vielen Bulimikern vorliegt. Gründe hierfür sind verschieden, jedoch habe ich den Verdacht, dass das Ausleben der bulimischen Symptome einen Entwicklungsfortschritt verhindert. Einfach formuliert, über-isst ein Bulimiker seine Probleme, anstatt sich ihnen konstruktiv zu stellen, und verhindert so seine eigene Entwicklung.
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