Samstag, 26. September 2015

Welche Rolle spielt Reflexion für den Weg aus der Bulimie?

Bulimie ist oftmals Ausdruck einer grundlegenden Erschütterung der eigenen Existenz; eine Suche nach Orientierung und Sinnhaftigkeit für das eigene Leben. Bulimie ist im wahrsten Sinne eine existenzielle Krise.

Solche existenziellen Krisen, die das eigene Dasein in Frage stellen, rütteln an den bisherigen Prinzipien, den Bausteinen, auf denen das Fundament des Lebens bislang gestanden hat. Das Fundament muss neu gegossen werden. Neue Prinzipien müssen her, neue Werte und neue Überzeugungen. Damit Neues entstehen kann, muss das Alte aber erstmal weg. Das erfordert in erster Linie das Bewusstsein dafür, dass das bisherige System nicht mehr funktional ist. Und erst wenn das Alte weg ist, kann an einem neuen Fundament gearbeitet werden.



„Problems cannot be solved at the same level of awareness that created them."
- Albert Einstein

Für dein neues Leben ohne Bulimie brauchst du ein neues Bewusstsein. Das hat nichts mit Spiritualität und Yoga zu tun - kann es auch - vielmehr mit deiner ganz persönlichen Arbeit an deiner Wahrnehmung. Obwohl klar ist, dass letztlich allein das Weglassen der bulimischen Symptome zu einer neurologischen Umstrukturierung und so zur Heilung führt*, so kommt es dennoch wesentlich darauf an, dass du diese Schritte auf psychischer Ebene vorbereitest und begleitest. 

Was meine ich mit „Arbeit am Bewusstsein“ oder "Arbeit an der Wahrnehmung“? Im Grunde das, was man auch mit der Fähigkeit zur Reflexion oder in manchem Kontext auch Reflexivität beschreiben könnte.

Reflexion ist die Fähigkeit, das eigene Denken zu prüfen und zu hinterfragen. Auch hierzu ist zunächst erforderlich zu erkennen, dass das eigene Denken bewusst wahrgenommen und gesteuert werden kann. Dazu gehören Fragen wie: Warum denke ich auf diese Art und Weise und nicht anders? Woher kommen diese Gedanken? Kann ich nachvollziehen, wie ich auf diesen Gedanken gekommen bin? Gibt es Faktoren, die meine Wahrnehmung und mein Urteil beeinflussen?


Reflexion wird graduell erworben- je öfter sie geübt wird, desto besser funktioniert sie und desto eher wird sie Bestandteil der eigenen Persönlichkeit. Reflexion macht es auch möglich, äußere Einflüsse wahrzunehmen, sie in Frage zu stellen und sie dann entweder bewusst anzuerkennen oder abzulehnen. Erst so ist die Formung der Persönlichkeit aus eigenem Antrieb heraus möglich.


Zurück zur Bulimie - warum ist Reflexion dann in der Hinsicht so wichtig? Jeder Impuls wie beispielsweise der Gedanke „jetzt hätte ich gern einen Essanfall“ führt nicht zwangsläufig zur Handlung (dem Essanfall). Auch wenn bei der Bulimie neurologische Strukturen existieren, die diese Handlung sehr stark begünstigen, so verfügt der Mensch dennoch über die Fähigkeit, den Impuls zunächst wahrzunehmen und dann willentlich darauf zu reagieren - das wird Impulsdistanz genannt.


Impulsdistanz verlangt Bewusstsein über den Impuls. Der Impuls muss zunächst wahrgenommen werden: Aha, es kommt der Gedanke „Ich will einen Essanfall“. Anschließend ist es dir freigestellt, darauf wie üblich zu reagieren- oder dir zu sagen: „Nein, heute will ich das nicht - Ich strukturiere heute bewusst mein Gehirn um, damit mir solche Entscheidungen in Zukunft noch leichter fallen.“


Und Reflexion ist nicht nur in direktem Bezug auf die bulimische Symptomatik wichtig, sondern wie oben schon angedeutet, für die Entwicklung der Persönlichkeit und der Ausbildung eines kritischen Geistes. Beispielsweise sind gesellschaftliche Konventionen wie das Schlankheitsideal oder Leistungsstreben für jeden Menschen zumindest nicht in vollem Umfang verpflichtend. Vielmehr ist es jedem Einzelnen freigestellt, ob er dem gesellschaftlichem Konsens zustimmt oder für sich eigene Werte und Prinzipien festlegt. 


Durch Reflexion und kritisches Hinterfragen treten auch Systeme und Muster zutage, die früher nicht klar waren. Dann tauchen beispielsweise Strukturen innerhalb der Familie auf, und auch dann erst kann man sich fragen, weshalb man gegenüber Eltern und Geschwistern vielleicht immer auf ähnliche Art und Weise agiert. Es könnte auch dazu führen, dass das Hinterfragen auch die Arbeitsstelle in Frage stellt, und es fällt vielleicht auf, dass man diese Arbeit gar nicht mehr für sinnvoll erachtet. Überhaupt ist Arbeit nicht nur dazu da, um Geld zu generieren, sondern sie erfüllt darüber hinaus noch vielfältige andere Zwecke: 


„Menschliche Arbeit hat nicht nur einen Ertrag, sie hat einen Sinn. Für die Mehrzahl der Bürger ist sie Gewähr eines gelingenden Lebensprozesses: Sie ermöglicht soziale Identität, Kontakte zu anderen Menschen über den Kreis der Familie hinaus und zwingt zu einem strukturierten Tagesablauf.“ - Willy Brandt, 1983.

Nicht von ungefähr „passiert" es daher oft schwerkranken Menschen, dass sie ihre Arbeit aufgrund der Konfrontation mit der eigenen Endlichkeit hinterfragen. Nicht wenige suchen sich nach der Überwindung der Krankheit eine ganz andere Arbeit; eine, die sie erfüllt, die sie mit dem Sinn ihrer Existenz verbindet und sie herausfordert. Aber auch Wünsche, die man als Kind hatte, bekommen dann oft eine ganz andere Dimension und mehr Bedeutung. Viele gehen dann erst das an, was sie „eigentlich schon immer mal machen wollten“, was aber aufgrund ihrer bisherigen Konformität mit gesellschaftlichen Anforderungen oder einfach einem nicht vorhandenen kritischen Hinterfragen des eigenen Lebensziels nicht umgesetzt wurde.

Viele solcher Menschen wurden beispielsweise auch für die Reihe der Süddeutschen Zeitung „ÜberLeben“ porträtiert. Menschen wie Sven Marx, der nach einem Gehirntumor mit dem Fahrrad um die Welt reist.


Es ist nie zu spät, um sich weiterzuentwickeln und seinem Leben eine völlig neue Wendung zu geben.


* Auch allein körperliche Veränderungen können zu einer Symptomfreiheit führen können: Eine Studie aus dem Jahr 2014 mit 118 Bulimiepatienten zeigte, dass eine dreimonatige ausschließliche Ernährung über eine Magensonde nach 3 Monaten bei 75% und nach 1 Jahr immerhin bei 25% zu einer totalen Symptomfreiheit führten. Das lässt darauf schließen, dass neurologische Strukturen normalisiert werden und den Essdruck verringern - ganz ohne psychologische Behandlung. [Link zur Studie]

4 Kommentare

  1. Anonym06 März

    Hallo Johanna,
    ich bin wirklich so glücklich, dass ich deinen Blog gefunden habe, weil er mich in meinen Sichtweisen so bestätigt. Ich selbst leide seit ca. 2 Jahren an Bulimie. Habe seit Beginn der ES bis vor einem Monat alleine dagegen angekämpft und habe in dieser Zeit auch bereits ein halbes Jahr keine Symptome mehr gehabt. Dabei habe ich die Erfahrung gemacht, dass wenn ich mich 3 Wochen lediglich von Eiweißshakes ernähre, meine Gedanken mich nicht mehr zu einem FA auffordern(Studie zur Magensonde). Nach den 3 Wochen habe ich meine Ernährung dann auf viel Gemüse und Eiweiß umgestellt und bin damit eigentlich super zurecht gekommen. Das, was mich zurück in die Bulimie gebracht hat, war eigentlich mein Umfeld, dass mir immer wieder gesagt hat, ich solle doch endlich wieder "normal", also wieder Weißmehlprodukte essen. Irgendwann habe ich dann einfach wieder Ja gesagt und bin wieder voll abgerutscht. Habe dann auch aufgegeben, weil ich das Gefühl hatte es nicht schaffen zu können. Mein Umfeld denkt ich bin so gut wie geheilt, obwohl es mir schlechter geht denn je. Du hast mich wieder ermutigt es schaffen zu können ohne Wert auf die Meinung von Leuten zu legen, die denken sie hätten eine Ahnung von Essstörungen, obwohl sie keinen blassen Schimmer haben. Danke!

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    1. Danke, dass du deine Erfahrung teilst.
      Ich kenne das, man kann sich von seinem Umfeld ganz schön negativ beeinflussen lassen. Aber: du hast mit deiner eigenen Art der Ernährung schon eine gute Erfahrung gemacht und gemerkt, was funktioniert - das wird dich in der Zukunft unterstützen.
      Vertraue auf dein eigenes Gefühl.
      Ich wünsche dir alles Gute! VG Johanna

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  2. Hi!
    Ein wirklich schön zu lesender Blog! Lese mich hier gerade durch :-)
    Alles Gute weiterhin!!

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  3. Ich denke, jede Form von Störung oder Krankheit sollte immer ganzheitlich betrachtet werden. Kein Mensch ist das Opfer irgendwelcher rein körperlicher Bedingungen. Reflexion ist letztendlich das A und O jeder Entwicklung. Toll, dass du hier dazu schreibst. Alles Gute!

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